Ich war Technokrat

Grundbausteine einer freien Gesellschaft – Trennung

Sie umgibt uns, wie ein Schleier, fast unsichtbar.
Doch wir spüren sie, jeden Tag, ihre ständigen Fragen,
unbequem, das mühsame Gewicht der Entscheidungen,
das süsse und schmerzhafte Geschenk der Verantwortung.
Erst wenn sie uns verlässt, erkennen wir ihre wahre Bedeutung,
erkennen wir unsere eigene Bestimmung.
Doch was ist der Preis, um ihr zu folgen?

Katja Lutz (25. November 2022)

Vor vielen Jahren befürwortete ich den Gedanken einer Technokratie. Damals glaubte ich, dass die Ungerechtigkeiten auf diesem Planeten gelöst würden, indem wir Menschen die Ressourcen überall, zu jeder Zeit mit der Hilfe von Maschinen überwachen und fair verteilen. Zusammen mit anderen Träumern zerbrach ich mir den Kopf darüber, wie ein System aussehen und verwirklicht werden könnte, das jedem Menschen ein gutes Leben sicherstellen würde.

Wir Technokraten träumten von aufmerksamen Maschinen, die unsere Felder säen und ernten, die Wälder nachhaltig pflegen und das edle Holz sorgfältig bündeln, die unsere tiefen Meere beschützen und den kostbaren Fisch fangen, wir träumten von einem Leben in Harmonie mit der Natur, den Maschinen, mit uns selbst und der Erde, von einem Leben im Gleichgewicht. Was ist so falsch an diesem Traum?

Ich weiss nicht, wann genau ich aufhörte diesen Traum zu träumen. Der fundamentale Glaube eines Technokraten ist wohl, dass einheitliche Regeln möglich sind, mit denen sich alle Menschen abfinden, oder sogar identifizieren können, Regeln die für alle Menschen gerecht sind, Regeln, die alle denk- und undenkbaren Konflikte lösen.

Irgendwann in meinem Leben begriff ich jedoch, dass nicht alle Konflikte zwischen Menschen in Verbundenheit gelöst werden können, dass manchmal eine aufrichtige Trennung die einzige Hoffnung für beide Seiten ist, dass Distanz ein elementares Heilmittel auf dem Weg der Vergebung ist.

Als Kind von geschiedenen Eltern habe ich gelernt, dass ursprünglich tiefgehendes Vertrauen, wenn einmal verloren, kaum mehr auffindbar ist, egal wie sehr man darum kämpft. Trennung ist wesentlicher Bestandteil vom Kreislauf des Lebens und unserer Natur. Kaum ein natürlicher Prozess kommt ohne sie aus.

Wie also sollte unsere Gesellschaft überhaupt ohne Trennung, und somit ohne periodische Rückkehr zur Eigenständigkeit, längerfristig gutgehen? Und wie sollte eine globale Weltordnung möglich sein, die keine Trennung kennt, die allen Menschen einen bitteren Kompromiss auferlegt und zwangsläufig Unnachgiebige als Terroristen verspottet.

Auf alle Menschen global, ausnahmslos angewendete Regeln, wie fair sie auch sein mögen, wie gut sie auch gemeint sein mögen, sind ab dem Tag zum Scheitern verurteilt, an dem ein einziger Mensch das Vertrauen in sie verloren hat und eine Trennung fordert.

So viele unterschiedliche Träume werden geträumt, wie es Menschen gibt. Was gibt dem Durchschnitt das Recht, der ganzen Menschheit einen bestimmten Traum aufzuzwingen?

Korrigiere mich falls ich mich täusche, aber keine grössere demokratische Abstimmung wurde wohl jemals einstimmig angenommen. Selbst wenn sich 51% der Menschen auf dem ganzen Planeten für eine globale Regel aussprechen würden, was passiert dann mit den anderen 49%? Wohin würden diese 4 Milliarden Menschen flüchten?

Die Technokratie kann uns Menschen also nicht den Himmel auf Erden bringen, den sich viele von uns so sehnlichst wünschen und auch die Demokratie vermag uns nicht vor der einen Frage zu beschützen, was wir machen werden, wenn der demokratische Kompromiss nicht mehr gut genug für alle ist.

Klar ist, wenn die beiden diametralen Bedürfnisse namens Beständigkeit und Fortschritt, zusammen streiten, dann gewinnt selbst mit einem Kompromiss immer der Fortschritt. Für die Beständigen bleibt irgendwann also zwangsläufig nur noch die Trennung, die Flucht in ein unbesiedeltes Land. Mit jedem Kompromiss nähert sich unsere Gesellschaft dieser scheinbar unvermeidbaren Trennung.

Trennung ist ein schmerzhafter, unbequemer Prozess, der uns ins Bewusstsein ruft, zu was wir verbogen wurden und wer wir eigentlich sein wollen. Die unaufhaltsamen Kräfte des Fortschritts werden alles daran setzen, diesen Prozess der Selbstfindung zu verhindern. Doch mit jeder angeblich friedstiftenden Massnahme wird der Fortschritt zusätzliche Opfer fordern, uns allmählich seine wahre, arrogante Gestalt zeigen und im eigenen Rückschritt wird er sein unerwartetes Ende finden.

Mit der Trennung werden wir wieder unsere Verantwortung fühlen, denn niemand wird mehr in unserem Namen die Frage beantworten, was richtig oder falsch ist, und wir werden erkennen, welche Gräuel wir in der gesamten Zeit zugelassen haben, als noch der Fortschritt über uns regierte.

Wir alleine werden gefordert sein, es dieses Mal besser zu machen, unserer Bequemlichkeit nicht nachzugeben und rücksichtsvoll miteinander umzugehen. Alles was uns nach der Trennung noch bleibt sind wir selbst, kein Vertreter dem wir die Schuld geben können und niemand der uns vor der allgegenwärtigen Unmenschlichkeit, vor uns selbst, beschützen wird.

Das ist der Preis der Freiheit.

© Copyright Studio Ghibli – Ausschnitt aus dem wunderbaren Film «Das Schloss im Himmel»

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